Jenseits vom Technogebabbel

Von Ansgar Warner

19. Mai 2024

Wer sich mit Internetgeschichte befasst, hat es ironischerweise erstmal mit viel Papier zu tun, ob nun anfassbare Büchern oder eingescannte, online verfügbare Quellen. Denn die Erfinder des Internet-Vorgängers ARPAnet haben eine Menge technischer Dokumentationen und Berichte hinterlassen.

Arpanet Logical Map 1973
Doch was sagt uns das eigentlich über die Bedeutung dieser Technologie? Leider viel zu wenig, beklagte vor knapp 20 Jahren Jaques Vallée, ein an der frühen ARPAnet-Entwicklung beteiligter Computerwissenschaftler – all das sei “amorphes Technogebabbel”, ein “obskurer Jargon von Bits und Bytes, Routern und Servern, Pushdown Stacks und rekursiven Prozeduren”.

Die menschliche Seite der Technik

“Computerwissenschaftler haben alles mögliche in der Welt dokumentiert, nur nicht ihre eigene Arbeit”, so Vallée, der sich seit den 1970er Jahren dann mit der Entwicklung von Groupware befasste, also Software für Online-Konferenzen. Dabei weiß er natürlich, dass es zahlreiche Reports der ARPA gibt, also der Forschungsförderung-Abteilung des Pentagons (später DARPA mit D für ‘Defense’), und eine Fülle von Diskussionspapieren (“Request for Comments” genannt) der informellen “Network Working Group”.

Doch Vallée meint eben etwas anderes als die bloße technische Ebene. “Über die menschliche Seite der Technologie wurde nirgendwo etwas aufgezeichnet”, so Vallées eigentliche Kritik. Schon die klassische Kybernetik habe eine Chance verpasst, weil sie sich eben auf bloße Steuerung und Kontrolle, auf die Codierung von Wissen konzentiert habe – und die geistige Ebene aus dem Blick geraten sei.

Das wiederhole sich im Netzwerkzeitalter: wieder gehe es vor allem um die Kontrolle und kommerzielle Ausbeutung der Menschen, ein Ansatz, den Vallée “Solid State Society” nennt. Dem stellt er die “Grapevine Alternative” gegenüber, in dem Netzwerke eine Art soziales Geranke produzieren: dort setzten sich Menschen gemeinsam für “sozialen Wandel”, “künstlerischen Ausdruck”, “Gedankenfreiheit” und “wissenschaftliche Erkenntnis” ein.

Vom sozialen Geranke zu Social Media

Doch wie gelingt das Umsteuern? Zweierlei sei wichtig: Man müsse Computer “demystifizieren”, also die rein technische Ebene der Beschreibung verlassen, und sich zugleich darum bemühen, ihre Geschichte zu verstehen. Genau darum geht es bereits in Vallées Klasiker “The Network Revolution. Confessions of a Computer Scientist”, erschienen 1982, und auch in der Neufassung von 2003 (“The Heart of the Internet. An Insider’s View of the Origin and Promise of the On-line Revolution”).

Gerade durch die Stil-Mischung aus historischem Essay, biographischen Anekdoten und literarischen Miniaturen wie etwa Traumszenen (!) gelang es Vallée tatsächlich, dem Technogebabbel seiner Zunft zu entkommen, und auch Computer- und Netzwerk-Laien bekamen ein Gefühl dafür, warum dieses Thema sie betrifft. Ein Ansatz, den ja auch “Wer wob das Web” verfolgt, indem die Ideen und Motive der Web-Pioniere in den Vordergrund rücken.

Als gemeinsamer Nenner kommt dabei tatsächlich so etwas heraus wie Vallées “soziales Geranke”, also die Hoffnung, dass mit engmaschiger Vernetzung der Menschen der soziale und zivilisatorische Fortschritt vorangetrieben werden kann. Oft ist es geradezu eine Netzwerk-Euphorie, die wir heute vielleicht nicht mehr ganz so teilen würden. “Social Media” und “Solid State Society” scheinen sich jedenfalls nicht gegenseitig auszuschließen, ob nun in punkto Kontrolle oder in punkto Kommerzialisierung…